40 Jahre Renault Turbo: Ausfahrt mit anabolischem Bonsai-Boliden
Für Renault war es wie eine Mondladung. Nur zehn Jahre später. Gerade hatte das Team der französischen Marke ihren ersten Formel-1-Grand-Prix gewonnen, Fahrer, Mechaniker und die halbe Grande Nation waren aus dem Häuschen, weil das Kunststück noch dazu mit einem innovativen Motor gelungen war – dem Turbo-Aggregat. Zum Jubiläum ließ Renault groß auffahren: mit einem Concours historischer Modelle und zwei prominenten Altmeistern der Strecke.
Geblähte Backen: Renault 5 Turbo, dahinter der Mégane R.S.. Foto: Auto-Medienportal.Net/Axel F. Busse
ampnet – 27. Juli 2019 - von Axel F. Busse
Erst in der Summe wird deutlich, wie sehr die Automarke mit der Raute
bemüht war, Erfahrungen aus dem Rennsport für die Großserienproduktion
zu nutzen und wie viele Personenwagen sie schon in den 80er Jahren mit
Turbomotor auf den Markt gebracht hat. Der Triumph im Rennen von Dijon
am 1. Juli 1979 war kein Zufallsprodukt, sondern zwei Jahre lang mit
technischen Defekten, Rennausfällen, Rückschlägen und Enttäuschungen
sehr mühsam erarbeitet.
Autor Axel F. Busse im Renault 5 Turbo. Foto: Auto-Medienportal.Net/Angelika Emmerling
Der Mann, der auf dem Foto von der Siegerehrung mit einem dicken
Lorbeerkranz umhängt ist und demütig den Kopf senkt, ist Jean-Pierre
Jabouille. Heute ist er 76 Jahre alt, ein schlanker, drahtiger Mann, der
auch in fortgeschrittenem Alter keine Mühe hat, sich in die feuerfeste
Rennkombi zu zwängen und den Helm aufzusetzen. Er tut dies gern für
seinen ehemaligen Arbeitgeber Renault. Während ein Moderator vollmundig
dessen Verdienste rühmt, steht Jabouille lässig an der Seite und nippt
an einem Espresso. Gleich soll er in das Auto seines Formel-1-Triumphs
klettern.
Unser Autor Axel F. Busse im Renault Fuego. Foto: Auto-Medienportal.Net/Angelika Emmerling
Das Originalfahrzeug aus der Saison 1979 bietet dem Renn-Senior ein
gewisses Entgegenkommen. Die obere Schale der Verkleidung kann
abgenommen werden und erleichtert so den Zustieg in die schmale
Sitzmulde. Gurte, Helm, alles wie damals – auch die Lautstärke. Der
V6-Benziner hat zwar nur 1,5 Liter Hubraum, röchelt, schreit, spuckt und
rasselt aber wie ein Großer. Auf dem kleinen, engen Trainingskurs
Circuit de la Ferté Gaucher lässt Jabouille es gemütlich angehen. Er
weiß, auch nach 40 Jahren kommt einem echten F1-Boliden die
Bockbeinigkeit nicht abhanden. Beschleunigen ist nur ganz verhalten
drin, denn die engen Kurven könnten Pilot und Wagen kaum schaffen, wenn
die 520 PS mal richtig von der Leine gelassen würden.
Aus der Boxengasse heraus beobachtet René Arnoux das Geschehen. Er ist
fünf Jahre jünger als Jabouille und war 1979 dessen Team-Kamerad.
Legendär sind seine Positionskämpfe mit Ferrari-Pilot Gilles Villeneuve
auf der Piste von Dijon, der am Ende Zweiter wurde. Die Plätze eins und
drei beim französischen Grand Prix waren Auftakt für eine lange Reihe
von Renault-Erfolgen: Bis heute konnten 177 Siege und 507
Podiumsplatzierungen errungen werden. Nachdem Renault mit dem Start des
Turbo-Programms in der Formel 1 vorangegangen war, zogen auch andere
prominente Motorsportmarken nach. Ferrari, BMW, Porsche und Honda
setzten ihrerseits auf die segensreiche Wirkung der verdichteten
Verbrennungsluft.
Autor Axel F. Busse im Renault 5 Alpine Turbo. Foto: Auto-Medienportal.Net/Stefan Anker
Aber was hatte der Renault-Kunde von den kostspieligen Experimenten in
der „Königsklasse“ des Motorsports? Gern wird Rennsport als
Entwicklungslabor für Techniken dargestellt, die Fortschritt in der
Großserie bringen. Für Cyril Abiteboul, Geschäftsführer von Renault
Sport Racing, ist die Turbotechnologie „zweifellos eine der kühnsten und
visionärsten Ideen in der Geschichte des Motorsports“. Umgesetzt in
Großserienautos sei der Turbo „mittlerweile Teil unseres Alltags
geworden und ein Symbol für Kraft, Geschwindigkeit und Fortschritt“.
Nur wenige Hersteller haben den Abgasturbolader so früh und so
konsequent in ihren Alltagsautos zum Einsatz gebracht wie Renault. Die
Aufstellung am Kurs von Ferté Gaucher beweist das. 15 Fahrzeuge aus der
Zeit von 1980 bis heute dokumentieren das Bekenntnis zur
Leistungssteigerung in den unterschiedlichsten Segmenten. Der Kleinwagen
R5 Turbo gehörte mit seinen anabolisch aufgeblähten hinteren Kotflügeln
wohl zu den spektakulärsten Erscheinungen auf der Straße. Durch
Temperaturprobleme und vereinzeltes Feuer an Bord hatte er schnell einen
Ruf als besonders „heißes Eisen“ weg.
40 Jahre Renault Turbo: Jean-Pierre Jabouille (links) vor seiner Jubiläumsfahrt. Foto: Auto-Medienportal.Net/Axel F. Busse
Dass Turbo-Kraft und höchster Komfort keine Widersprüche waren, bewies
Ende der 80er Jahre der Renault 25 V6 Baccara, dessen wulstige
Ledersessel zwar wenig Halt in schnellen Kurven boten, dafür aber das
Ausstattungsniveau keine Wünsche offen ließ. Dazwischen lagen Modelle
wie der Fuego Turbo oder der Safrane Biturbo. Der Mégane R.S.
repräsentiert den aktuellen Entwicklungsstand mit 300 PS.
Die Probefahrt in einem Renault 5 Turbo ist wie ein Date mit der
Comicfigur Popeye. Der Seemann mit den Muskelpaketen fängt sich ähnliche
ungläubige Blicke ein, wie der zum Sportgerät mutierte Kleinwagen, mit
dem Jean Ragnotti 1981 die Rallye Monte Carlo gewann. Stolze 20,2
Zentimeter beträgt die Karosserie-Verbreiterung an der Hinterachse und
das aus guten Grund: Das ursprünglich als Fronttriebler konzipierte
Fahrzeug wurde unversehens zum Mittelmotor-Renner, als man beschloss,
die Rücksitzbank zu entfernen und dort den 1,4 Liter kleinen Motor zu
platzieren. Außerdem wurde der im Unterschied zum Wagen mit
Vorderradantrieb längs anstatt quer eingebaut. 160 PS für rund 900
Kilogramm Eigengewicht lassen ein enormes Temperament vermuten.
Heißes Eisen: der längs hinten eingebaute Motor des R 5 Turbo. Foto: Auto-Medienportal.Net/Axel F. Busse
Feingefühl in beiden Fußgelenken ist eine gute Voraussetzung für eine
entspannte Fahrt in dem betagten Sportwagen. Das Kupplungspedal hat
schon einen gefühlten Meter Weg zurückgelegt, ohne dass sich so etwas
wie Kraftschluss eingestellt hätte. Dafür verlangt das Gaspedal nur eine
ganz zärtliche Berührung, um den Vierzylinder hochjaulen zu lassen. Wer
genau hinhört, kann das Pfeifen des Turbos vernehmen, wenn er mal
wieder tief Luft holt. Der Verzicht auf Antriebstechnik unter der
Fronthaube wirkt sich positiv auf die Lenkbarkeit aus: Es ist eine Menge
Gewicht nach hinten gewandert und deshalb lenkt es sich auch ohne
Servo-Unterstützung leicht und bequem. Allerdings wird ein ordentlicher
Einschlag gefordert, um die Fuhre zielgenau um die Kehre zu bugsieren.
Die dicken Hinterrad-Walzen bringen die Antriebskraft gut auf die
Straße, von Ausbruchsversuchen ist nichts zu spüren.
Renault 25 V6 Turbo. Foto: Auto-Medienportal.Net/Axel F. Busse
Ebenso wenig ist spürbar, ob denn für die Ausfahrt aus der Kurve die
geeignete Übersetzung anliegt. Wenn für ein Getriebe das Wort
„ausgelutscht“ angebracht ist, dann für diese Fünf-Gang-Schaltbox des
historischen Renault 5. Außerdem sind Fahrwerk und Sitze nach heutigen
Maßstäben viel zu weich, die Seitenneigung ist erheblich, besonders in
der schnellen Links-Rechts-Kombination zur Mitte des Kurses.
Freilich wird die Abwesenheit eines souveränen Fahrverhaltens nicht als
störend empfunden. Vielmehr macht der pure und ursprüngliche Auftritt
des Bonsai-Sportlers einen Heidenspaß. Pausbacken hin oder her:
Autofahren in so ehrlicher und unverfälschter Form ist zu einer
Seltenheit geworden. Und die ausgestellten Kotflügel haben noch nicht
einmal etwas mit Imponiergehabe zu tun. Irgendwo muss die Luft ja
herkommen, die der Turbo zum Befeuern der Fuhre braucht.
(c) ampnet/afb
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