Exklusiv: Taufe für einen automobilen Meilenstein im Mittellandkanal
Eigentlich sollte es eine Überraschung für alle Wassersportfans werden. Anlässlich des diesjährigen Rennens um den Wolfsburger Drachenbootcup auf dem Allersee wollte die VW-Erlebniswelt Autostadt den Schiedsrichtern ein ganz besonderes Boot zur Verfügung stellen. Covid-19-bedingt fiel die Veranstaltung aber sprichwörtlich ins Wasser. Also wurde der neuerworbene „Meilenstein“ für die Automobil-Sammlung im „Zeithaus“, ein Amphicar 770 von 1961 in originalem Türkis kurzerhand per Jungfernfahrt auf dem Mittellandkanal getauft.
Ein Anruf bei den Nachbarn des Wolfsburger Motosportclubs und an der
VfL-Arena vorbei geht es der Rampe des kleinen Hafenbeckens unmittelbar
am Kanal entgegen. Ein kurzer Gruß den interessierten
Vereinsmitgliedern, die doch wissen wollen, was da nun gleich in ihre
„Badewanne“ fahren wird und noch schnell die zusätzliche
Türen-Arretierung umgelegt; sicher ist sicher und trockene Füße sind
besser als nasse. Schwungvoll steuert Gerald Gretzke, Mitarbeiter der
Autostadt, mitverantwortlich für den technischen Zustand der automobilen
Klassiker, den Schwimmwagen zwischen die zahlreichen Boote, die in der
Mittagssonne entspannt im ruhigen Hafenwasser dümpeln.
Das Getriebe in den Leerlauf und mit dem Umlegen eines Hebels erfolgt
das Umschalten von Land- auf Wasserbetrieb: Die Kunststoff-Schrauben
unter dem Heck des Wagens übernehmen den weiteren Vortrieb. Ein Ruder
gibt es nicht. In beiden Elementen, für die das Amphicar gebaut wurde,
gibt der Stand der Vorderräder die Richtung vor, in die es gehen soll.
Mit sanftem Gasfuß und gefühlvollen Lenkeinschlägen navigiert Gretzke
der schmalen Hafenausfahrt entgegen. Hier gilt der Schulterblick nach
Links den Frachtschiffen auf dem Mittellandkanal und dann heisst es:
„Volle Fahrt voraus!“ der Autostadt entgegen.
Die 12 km/h auf dem Wasser liegen jedoch nur kurz an. Zu laut wäre das
Motorengeräusch aus dem Heck; schließlich gilt es, noch Vieles über die
Historie dieses besonderen Meilensteins der Automobilgeschichte zu
erfahren. Wüsste man es nicht besser, verleiten die Karosserieform und
die kleinen Heckflossen dazu, anzunehmen, das Amphicar käme aus den USA,
wäre da nicht ein Bild des berühmten Holstentores der Hansestadt Lübeck
in die Mitte des Lenkrades eingelassen. Hanns Trippel (1908-2001), der
Erfinder des Amphibien-Pkw konstruierte bereits in den 1930er-Jahren
Schwimmwagen für militärische Zwecke. Ende der 1950er-Jahre begeisterte
er schließlich Entscheider der deutschen Quandt-Gruppe, ein Schwimmauto
für zivile Zwecke zu produzieren.
Im Herbst 1961 begann die Produktion in zwei (eigentlich Waggon-)
Fabriken in Lübeck-Schlutup und Berlin-Wittenau. Das von einem
Reihen-Vierzylinder mit 38 PS (28 kW) des englischen Triumph Herald
angetriebene viersitzige Cabriolet traf jedoch in Deutschland nur auf
eine geringe Nachfrage. Auch ein Preissenkung von ursprünglich 10.500 DM
auf 8385 DM nach zwei Jahren Produktionszeit änderte daran nichts. Der
Wartungsaufwand für das Amphicar war einfach zu groß, denn nach jeder
Wasserfahrt sollten im Idealfall 13 Schmiernippel mit Fett versorgt
werden. Dazu musste das Fahrzeug aufgebockt und die Rücksitzbank
ausgebaut werden. Darüber hinaus musste für den Schwimmwagen auf
deutschen Wasserstraßen auch ein Sportboot-Führerschein vorliegen.
Die meisten der bis 1965 regelmäßig, danach nur noch sporadisch
gefertigten Fahrzeuge fanden daher ihren Weg in die USA, wo die Vorgaben
weniger streng waren oder man sich eher mit den Qualitäten „eines
untauglichen Automobils mit denen eines untauglichen Motorboots“ (so ein
zeitgenössischer Tester) arrangieren wollte. 1968 war nach 3878
Einheiten endgültig Produktionsschluss für das erste (und bislang
einzige) in nennenswerter Stückzahl gebaute deutsche Schwimmauto.
Mittlerweile ist das Hafenbecken der Autostadt erreicht. Und nach einer
Ehrenrunde am Fuße des VW-Kraftwerks geht es die lange Wasserfront der
Autostadt zurück in den sicheren Hafen und über die kleine Betonrampe
hinauf auf den Boden des üblichen Automobil-Elementes: Das
Notfall-Paddel verbleibt trocken und ungenutzt auf der Rücksitzbank.
Text: ampnet/av
Kommentare
Kommentar schreiben
Um einen Kommentar zu verfassen, müssen Sie angemeldet sein.
Noch nicht registriert? zur Registrierung
Das könnte dich auch interessieren: